Der Grimmaer Seifenfabrikant und Stadtrat Rudolf Kurt Held befand sich bei Kriegsausbruch in Schottland. Über Holland gelang ihm die Rückreise ins Deutsche Reich. Seine Erlebnisse während der Heimreise legen ein Zeugnis von der unterschiedlichen Stimmung in Europa ab, von der allgemeinen Kriegsbegeisterung in Deutschland und auf dem Kontinent. Er berichtet:
Ich habe in den 4 Wochen meines Aufenthalts in England mit fast allen Volksschichten verkehrt. Drüben in England will das Volk keinen Krieg. Es kümmert sich ja gar nicht um Militärwesen. Dem steht man mit völliger Teilnahmslosigkeit gegenüber und Begeisterung für seine Soldaten kennt der Engländer überhaupt nicht. In Edinburg war alles ruhig. Auf dem Bahnhof standen mobilisierte Territories und Hochländer. Das Volk nahm keine Notiz von ihnen. In den Straßen sah ich betrunkene Soldaten und Matrosen in beträchtlicher Zahl. Ich kaufte mir Zeitungen. Sie wimmelten von Lügen und den unglaublichsten Nachrichten über Niederlagen der Deutschen und über die Zerstörung von deutschen Zeppelinen. Der französische Flieger Carro sollte einen Zeppelin vernichtet haben, indem er sich mit seinem Doppeldecker von oben auf das deutsche Luftschiff gestürzt hätte. Daneben hetzen die englischen Zeitungen zum Kriege gegen Deutschland. In einer las ich: Jetzt ist es noch Zeit, Deutschland niederzudrücken, bevor es mit barbarischer Rücksichtslosigkeit Frankreich niederwirft. In unverschämten Redensarten Deutschland gegenüber überboten sich die ,Times‘ und die ,Daily Mail‘.
Die Kriegsnachrichten erreichten mich im schottischen Hochgebirge nachmittags 3 Uhr durch eine Privatmeldung ans Hotel. Wir waren eine Reisegesellschaft von 9 Personen. Natürlich wurde sofort beschlossen, nachhause zu reisen. Aber Sonntags fahren leider in ganz England keine Züge. Erst am Montag konnten wir also nach Edinburg gelangen. Von dort aus ist Deutschland in bequemer Seefahrt am besten zu erreichen und wir hatten ja auch alle schon von Edinburg aus Schiffsbilette. Freilich in einem deutschen Hafen zu landen war nicht mehr möglich. Da kam aber auch schon die Nachricht von der Besetzung Belgiens durch die Deutschen [ab 2. Aug., Anm. Verf.]. Jetzt war uns auch die belgische Küste verschlossen. Kurz entschlossen begab ich mich am Montag [3. Aug., Anm. Verf.] zum deutschen Konsul in Edinburg. Er riet mir, so schnell wie möglich nach London zu reisen und von da aus nach Holland zu fahren. Schnelligkeit war geboten, denn schon am Abend sollte der letzte Dampfer abgehen. In größter Eile ging es nach Folkstone. Wir glaubten uns in Deutschland, denn überall hörte man nur deutsche Laute. Kein Wunder, etwa 2000 waffenfähige Deutsche waren zusammengeströmt, um nachhause zu fahren, sie waren begleitet von deutschen Freunden und Familien, die patriotische Lieder anstimmten, als sich unser Schiff, auf dem wir unter fürchterlichem Gedränge einen Platz bekommen hatten, in Bewegung setzte. Die Fahrt war wunderschön. Daß wir fortgesetzt im blendenden Lichte der Scheinwerfer englischer Kriegschiffe fahren, tat unserer Stimmung keinen Abbruch. Am frühen Morgen des Dienstag erreichten wir Vlissingen. Unter dem Jubel der Bevölkerung landeten wir. Holland ist deutschfreundlich. Holländische Soldaten und Beamte jubelten uns zu, als wir in die Züge stiegen. Auf allen Bahnhöfen, die wir durchfuhren, machte sich die gute Gesinnung der Holländer uns gegenüber bemerklich.
Bald waren wir wieder auf deutschem Boden. Welch ein Leben auf allen Stationen! Zug um Zug rollte uns entgegen, an uns vorüber nach Westen zu. Überall grenzenlose Begeisterung. Überall wetteiferte man, das durchfahrende Militär zu erquicken. Und welch guter Mut offenbarte sich aus dem Treiben des Militärs. Gar viele Eisenbahnwagen hatten Inschriften:
,Armer Nikolaus, wir reißen dir den Spitzbart aus, mit dir ist’s nun balde aus‘ oder:
,Jeder Stoß ein Franzos, jeder Schuß ein Russ‘ oder: ,Russen und Serben, wir hauen sie in Scherben‘.
Der Humor war prächtig, die Stimmung vorzüglich. Trauer lag nur auf den Minen derer, die da abgewiesen worden waren und nicht als Freiwillige mit in den Krieg ziehen durften. In Wesel sollen Tausende und Abertausende betrübte Zurückgewiesene sein.
Die Fahrt nach Grimma war zwar lang, sie dauerte drei Tage und drei Nächte, aber sie war doch schön infolge der überall herrschenden Begeisterung“.
Kurt Held meldete sich nach seiner Rückkehr zum Heeresdienst und diente zunächst als Artillerie-Unteroffizier im sächsischen. Feldartillerie-Regiment 77 und im Ersatz-Feldartillerie-Regiment 47. Im Herbst 1915 wurde er zum Leutnant d. Res. befördert und ließ sich, da er ein großer Freund des Ballonsports war, als Beobachter zur Feldluftschiffer-Abteilung No. 11 versetzen. Inzwischen mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet, ereilte ihn am 22. Mai 1916 der Tod. Während eines Aufklärungsfluges im Fesselballon wurden er und ein Kamerad abgeschossen. Damit verlor Grimma eine der bekanntesten Persönlichkeiten dieser Zeit, denn Kurt Held war nicht nur ein überregional bekannter Ballonfahrer, er war als Stadtverordneter ab 1910 und Stadtrat seit 1912 auch ein angesehenes Mitglied der Grimmaer Gesellschaft. Ebenfalls 1910 wurde er Vorsitzender der Schützengesellschaft und 1912 auch Schützenkönig. Die zahlreichen Beileidsbekundungen zeigten auch, wie tief das Militär in der Gesellschaft verankert war. So war Held Mitglied im Militärverein, im Kriegerverein und Husarenverein von Grimma. Seine Beisetzung auf dem Grimmaer Friedhof konnte indes erst am 11. Oktober erfolgen, da sich die Überführung des Leichnams hinzog.
Peter Fricke, 2014