Vom 1. bis zum 8. Juni 1890 veranstaltete der 1872 gegründete Nerchauer Gewerbeverein seine erste Gewerbeausstellung. Für diesen Anlass stellte der Wirt des Gasthauses „Goldener Sterns“ seine Räume zur Verfügung. Nach der Eröffnungsfeier, an der vor allem die Vereinsmitglieder und die sonstige Nerchauer Prominenz teilnahmen, besichtigten am darauffolgenden Tag Leipzigs Kreishauptmann v. Ehrenstein und der Amtshauptmann von Grimma, Dr. Schnorr v. Carolsfeld, die Ausstellung. Der Vereinsvorsitzende Direktor Leicht führte die Herren durch die Ausstellungsräume und nach anschließender Festtafel verließen die Ehrengäste Nerchau mit den besten Eindrücken. Während der Woche besuchten des öfteren Nachbarvereine die Schau. So war am 4. Juni der Grimmaer Gewerbeverein mit etwa 70 Personen vertreten, aber auch die Wurzener, Wermsdorfer und Mutzschener Vereine kamen mit zahlreichen Gästen. Durch den Anschluss Nerchaus an die Muldentalbahn und die 1888 eröffnete Nebenbahn Nerchau (Trebsen) – Mutzschen war die Gewerbeausstellung für die Einwohner der näheren Umgebung leicht erreichbar. Dementsprechend gut war die Veranstaltung besucht, wovon auch die anderen Gasthöfe der Stadt profitierten. Damit Fabrikarbeiter Gelegenheit zur Besichtigung hatten, blieben die Räume am vorletzten Tag bis 20 Uhr geöffnet. Auch die Aussteller konnten zufrieden sein. Neben dem gewünschten Werbeffekt, machten sie durch den Verkauf von Stücken für die Ausstellungslotterie und durch Ankäufe bzw. Nachbestellungen durch die Besucher einen ansehnlichen Gewinn. Am letzten Tag hatten einige Aussteller alle Schaustücke abgesetzt und beendeten die Veranstaltung mit vollen Auftragsbüchern.
Obwohl die Gewerbeausstellung für die Teilnehmer und die Stadt Nerchau durchaus als Erfolg zu werten war und mit einem kleinen Gewinn von 220 Mark schloss, offenbarte sie auch mehrere Schwächen. So hatten sich z.B. nicht so viele Nerchauer Firmen an der Ausstellung beteiligt wie vom Gewerbeverein erhofft, was dazu führte, dass relativ viele auswärtige Händler, vor allem aus dem nahen Grimma, vertreten waren. Man konnte auch nicht davon sprechen, dass die Gewerbeausstellung einen Querschnitt des Nerchauer Gewerbes darbot. So waren vor allem die Betriebe der Nerchauer Ton- und Farbenindustrie stark vertreten. Dafür glänzten aber das Kleingewerbe und das Handwerk weitgehend durch Abwesenheit. Bäcker, Schuhmacher, usw. fehlten völlig. Mit dem fehlenden Interesse des Handwerks hatte der Verein während seines ganzen Bestehens zu kämpfen. Getragen wurde er hauptsächlich von der Nerchauer Industrie, sowie Lehrer- und Beamtenkreisen.
Dennoch ließen sich die Vereinsmitglieder nicht entmutigen und bildeten Rücklagen für eine weitere Ausstellung, welche 1914 stattfinden sollte, aber durch den Krieg verhindert wurde. Das Ende für den Gewerbeverein kam mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten, die gegen „Vereinsmeierei“ außerhalb der eigenen politischen Organisationen ankämpften. Nach 62 Jahren löste sich der Gewerbeverein am 6. Januar 1934 auf. Während seines Bestehens hatte der Verein zahlreiche Verbesserungen für Nerchau bewirkt. So gingen die gewerbliche Zeichenschule, die Volksbibliothek, die Vereinsbank, der Stenographen- und der Verschönerungsverein auf seine Initiative zurück. Auch an der Anbindung Nerchaus an die Nebenbahn nach Mutzschen, der Schaffung der Haltestelle (Muldentalbahn) und des Güterbahnhofs war der Verein maßgeblich beteiligt.
Peter Fricke, 2018