Das Schneechaos von 1886

Einige Grimmaer kennen heute noch den sogenannten Polarwinter von 1929, der mit Temperaturen von rund 30 Grad Kälte die Mulde zufrieren ließ und das Grimmaer Wasserleitungsnetz schwer beschädigte. Deutlich dramatischer war jedoch das Schneechaos von 1886, welches die Stadt kurz vor Weihnachten mehrere Tage lang vom Rest der Welt trennte. Während noch am 18. Dezember Schmetterlinge bestaunt werden konnten und jeder an ein grünes Weihnachten glaubte, begann es von Sonntag (19.) Nachmittag an zu schneien. Der Schneefall steigerte sich bald zu einem Schneesturm, welcher ununterbrochen bis zum Mittag des Mittwochs anhielt. Am Anfang noch sehnlichst erhofft und begrüßt, legten die Schneemassen bald den Alltag lahm und nahmen zunehmend lebensbedrohliche Ausmaße an. Am stärksten betroffen waren die Königreiche Sachsen und Bayern sowie Schlesien, Thüringen und Brandenburg. Allein in Sachsen waren über 50 Tote zu beklagen. Die Schneedecke erreichte im Grimmaer Umfeld eine durchschnittliche Höhe von 80 cm, aber vor allem das plötzliche und heftige Einsetzen des Schneesturmes machte die Situation gefährlich.

Zunächst brach am Montag (20.) der Verkehr zusammen. In den Straßen türmte sich der Schnee trotz unermüdlicher Räumversuche zu Bergen an, so dass selbst Schlitten nur mit großer Mühe vorankamen. Außerhalb der Stadt war ein Fortkommen zunächst nahezu unmöglich, da selbst an geschützten Stellen der Schnee meterhoch lag. Besonders die Händler beklagten den erzwungenen Ausfall des Weihnachtsgeschäfts. Um die Straßen einigermaßen passierbar zu halten, warb die Stadt zum Schneeräumen Arbeiter für 15 Pfg. die Stunde an. Für den letzten Markttag vor Weihnachten waren mühsam Gänge auf dem Marktplatz geschaufelt worden, aber kaum ein auswärtiger Händler konnte erscheinen.

Besonders hart traf es Reisende, die mit der Bahn unterwegs waren. Aus Richtung Dresden kamen am Montagabend die letzten Züge mit einiger Verspätung immerhin noch am Oberen Bahnhof an. In der Gegenrichtung hatten die Passagiere weniger Glück. Der Zug blieb kurz hinter Großsteinberg, in der Nähe des Roten Vorwerks, in den Schneemassen stecken. Da draußen ein Schneesturm tobte, mussten die Passagiere die Nacht wohl oder übel in den unbeheizten Waggons verbringen. Am nächsten Tag gelang es mit Hilfe von etwa 150 Husaren der hiesigen Garnison, die Strecke soweit frei zu machen, dass der Zug gegen Mittag bis nach Grimma fahren konnte. Die Passagiere brachte man unterdessen, nach 20 Stunden im eisigen Zug, mit Pferdeschlitten zum Oberen Bahnhof. Allerdings mussten sie hier noch weitere drei Tage ausharren. Auf der Muldentalbahn versuchte man am 19.12. mit einem Zug von Großbothen nach Wurzen zu fahren, der blieb aber bei Dehnitz stecken und entgleiste. Den aus Leipzig georderten Hilfszug ereilte kurz hinter Wurzen dasselbe Schicksal. Auch im restlichen Sachsen, besonders im Gebirge, sah es nicht viel besser aus.

Erst am 24. Dezember konnte der Bahnverkehr mit Leipzig wieder aufgenommen werden. Nachdem zunächst ein aus Leipzig kommender Zug noch in Naunhof steckengeblieben war, gelang es am Nachmittag einem mit drei Lokomotiven und nur sieben Wagen bespannten Zug aus Grimma, Leipzig zu erreichen. Ein vom Oberen Bahnhof in Richtung Döbeln abgeschickter Zug, kam allerdings noch nicht einmal bis nach Großbothen und wurde mit zwei anderen Lokomotiven nach Grimma zurückgezogen. Auf der Muldentalbahn konnte der Betrieb am 1. Weihnachtsfeiertag wieder aufgenommen werden.
Auch der Postverkehr war stark gestört. Die Landbriefträger hatten vereinzelt noch am Dienstag (21.) versucht die Post zuzustellen. Danach ruhte auch der Postverkehr gänzlich, da zum einen keine auswärtige Post mehr nach Grimma gelangte, zum anderen eine Zustellung außerhalb der Stadt wegen unpassierbarer Wege kaum möglich war. Die aus Grimma abgehende Post stapelte sich dafür und konnte erst gegen Neujahr ihre Ziele erreichen. Mit dem Postschlitten konnten die Verbindungen nach Mutzschen und Bad Lausick, außer am 22./23., aufrechterhalten werden, allerdings wurde die Personenbeförderung ausgesetzt.

Das Weihnachtsfest war in jenem Jahr eher trostlos. Wer seine Geschenke noch nicht besorgt hatte, bekam auch keine mehr, und Besuche außerhalb der Stadt waren so gut wie unmöglich. Dazu kam ein Mangel an Backwaren wie Rosinen, Mandeln, Zitronat und vor allem Hefe.

Auch die auswärtigen Schüler der Fürstenschule waren wenig begeistert, da sie Weihnachten statt bei ihren Familien in der Schule verbringen mussten, ehe sich der Bahnverkehr am 2. Weihnachtsfeiertag langsam wieder aufgenommen werden konnte.

Die Stadt zeigte sich in diesem Jahr zwar in einem malerischen Gewand, aber viele werden sich so schnell keine „Weiße Weihnacht“ mehr gewünscht haben.

Peter Fricke, 2020