Flucht, Vertreibung, Integration

Texttafeln der Ausstellung

Ausstellung
Flüchtlinge und Vertriebene kommen in die Kreise Grimma, Wurzen und Borna Maßnahmen der Verwaltung gegen das drohende Chaos
Versorgung der Vertriebenen mit Wohnraum, Hausrat und Lebensmitteln
Die Versorgung der Vertriebenen mit Arbeitsplätzen
Horst Anders
Hans-Joachim Kullig

Kullig, Hans-Joachim

Mein Name ist Hans-Joachim Kullig. Ich wurde am 2. Mai 1941 als Sohn eines Kaufmanns in Breslau geboren. Meine Eltern zogen 1942 in unser neues Haus, in dem wir noch drei Jahre wohnten. Uns ging es gut, wir waren gut betucht.

Der Krieg hat uns überrollt. Die Bombardierung und die Angriffe wurden immer massiver. Es durfte niemand aus der zur Festung erklärten Stadt. Meine Tante war bei der Deutschen Bahn. Sie hat uns in den letzten Lazarettzug von der Wehrmacht geschmuggelt. Sie sagte: „Wenn ihr wollt, müsst ihr sofort mitkommen.“ Meine Mutter hat mich und greifbare Wertsachen in den Kinderwagen reingestopft und den Pelzmantel, damit wir richtig warm eingepackt waren. Nur die Papiere, die sie im Wagen unter der Aufbettung versteckt hatte, konnten wir retten. Meine Oma ist in Breslau geblieben, ist erst später raus gekommen. Mein Vater war im Krieg. In den Lazarettzügen gab es Medikamente und Essen. In den mit Stroh ausgelegten Viehwagen waren auf der einen Seite die Soldaten, Munitionskisten und Waffen und auf der anderen Seite wir. Das Rote Kreuz war natürlich vollkommen überfordert. Wir sind mit dem letzten Transport bis Dresden gefahren, am nächsten Tag nach Grirnma. In der Aula der Fürstenschule waren Strohsäcke zum Schlafen aufgeschüttet. Am 12. Februar wurden wir auf die einzelnen Dörfer verteilt, am 13. war der Angriff auf Dresden. Ein Bauer hatte ein Fernglas. Die Christbäume hat man gesehen. Der Himmel war blutrot, als würde man in blanke Flammen schauen. Und es sind ungefähr 70 km bis Dresden. Es ist verheerend gewesen. Mein Opa musste als Rentner in einer Hilfsorganisation nach dem Bombenangriff die Leichen bergen. Davon hat er sich nie wieder erholt. Er ist zwei Jahre später gestorben, wollte nie davon sprechen.

Unsere restlos verstreute Familie hat sich nach und nach über den Roten-Kreuz-Such-Dienst wieder gefunden. Wir wurden ins Dorf Zeulitz geschickt, sind als Zigeuner betitelt worden. „Geht doch wieder dorthin, wo ihr hergekommen seid!“ Manche haben uns, die Kinder, mit der Peitsche weggejagt, wenn wir die Dämpfkartoffeln essen wollten, die die Schweine kriegen sollten. Aber andere Bauern ließen auch ganz bewusst ein paar Bonbons aus der Tasche fallen. Unsere Familie hat sehr zusammengehalten. Meine Oma kümmerte sich in der kleinen Wohnung um sechs Kinder. Zusammengenagelte, mit Papier ausgeschlagene Stiegen waren unsere ersten Schränke. Es war nichts da. Wir haben uns gegenseitig unterstützt. Von einem hat man eine Tasse gekriegt, von dem anderen ein paar Teller. Aber Freundschaften mit den Einheimischen sind erst mit der Zeit gewachsen. Es wurde besser, als es die Lebensmittelmarken gab. Nach der Ernte, wenn der Strohwisch auf den bewachten Feldern stand, durften wir noch einige Ähren lesen. Mit einem Knüppel haben wir die Körner ausgeschlagen, sind mit dem Beutelehen in die Mühle und haben den Müller angebettelt, dass er das Getreide mahlt. Das Mehl wurde aber nicht für Kuchen oder Brot genommen, es war zu kostbar, es wurde gestreckt und Einbrenne gemacht.

Die drei Winter ab 147 waren sehr streng mit sehr viel Schnee. 1948 bin ich in die Schule gekommen. In Holzlatschen und mit hungrigem Magen sind wir 4 km gelaufen. Dort gab es ein schwarzes Brötchen. Wir waren vier Klassen in einer. Durch die Kohlengrube in Leipnitz hatte die Schule noch relativ lange zu heizen. Meine Mutter hatte Sparbücher, die sie aber nicht einlösen konnte. Sie nähte für die Leute. Statt Geld bekam sie dafür zu essen, es war ein Tauschhandel. Meine Mutter konnte sich überhaupt nicht vorstellen, auf dem Dorf zu bleiben. Sie war die Großstadt gewöhnt. Als gelernte Maßschneiderin bekam sie eine Stelle, so dass wir in Grimma leben konnten. Die Dörfler durften sonst nicht in die Stadt ziehen, weil der Wohnraum restlos überbelegt war.

Unsere Familie hat mit allem Glück gehabt. Aber der Vater lag lange mit einem Kopfschuss im Lazarett und wir wussten nicht, wo er war. 1950 ist er entlassen worden, kam in die Bundesrepublik. Meine Mutter wollte nicht rüber und mein Vater wollte nicht rüber, so sind sie nicht wieder zusammen gekommen. Ich beendete 1956 die Schule und lernte bei einem Breslauer Lehrmeister Autoschlosser, eine lukrative Arbeit. Wenn man um 1960 ca. 280 bis 330 Mark verdiente, war das viel Geld. In der Armeezeit konnte ich meinen Beruf nahtlos weiterführen. Ich war der einzige Elektriker im fliegertechnischen Bataillon in Cottbus. Die zehnte Klasse holte ich in der Volkshochschule nach. Glücklicherweise durfte ich die Meisterprüfung sofort ablegen, da ich freiwillig bei der Armee gewesen bin. Ich wurde in der PGH Lehrausbilder, dann Technischer Leiter und Vorsitzender. Als ich heiratete, hatte meine Frau schon zwei Zimmer, in denen wir leben konnten. Zwei Jahre später zogen wir in unsere Wohnung.

1961 bin ich das erste Mal wieder in Polen gewesen. Unsere Häuser waren unversehrt. Es standen noch unsere ersten Möbel drin, so wie wir fort sind. Flüchtlinge aus Lernberg bzw. Posen waren eingezogen. Wir sind mehrmals nach Breslau und ins Riesengebirge gefahren, immer dorthin, wo auch unsere Vorfahren gewesen sind, auf der Schneekoppe, in Hirschberg oder Liegnitz. Heiligabend kommen bei uns die Weißwürste auf den Tisch und Pfefferkuchensuppe. Wir pflegen es weiter, aber nicht, weil wir es müssen, es ist uns Gewohnheit und Bedürfnis. Ich würde auch in der alten Heimat leben, aber unsere Existenz haben wir uns hier aufgebaut. Dort bin ich ein Fremder unter Menschen, die ich nicht mehr kenne.