Flucht, Vertreibung, Integration

Texttafeln der Ausstellung

Ausstellung
Flüchtlinge und Vertriebene kommen in die Kreise Grimma, Wurzen und Borna Maßnahmen der Verwaltung gegen das drohende Chaos
Versorgung der Vertriebenen mit Wohnraum, Hausrat und Lebensmitteln
Die Versorgung der Vertriebenen mit Arbeitsplätzen
Horst Anders
Hans-Joachim Kullig

Anders, Horst

Mein Name ist Horst Anders. Ich bin am 25. April1931 in Militsch geboren und verlebte dort eine glückliche schöne Kindheit, bis wir am 21. Januar 1945 fliehen mussten. Da war ich 13 Jahre alt und Gymnasiast in meiner Heimatstadt. Mein Vater war Lehrer und Kantor in Militsch an einer der sechs schlesischen Gnadenkirchen.

Wir wohnten sehr schön. In unmittelbarer Nähe der Gnadenkirche standen drei Pfarrhäuser um einen sehr hübschen Kirchplatz mit alten Bäumen. Der Begriff Umsiedler ist durch 40 Jahre Sozialismus politisch begründet. Es gibt nur Flüchtlinge und Vertriebene. Die Russen standen am Stadtrand und haben mit Panzern geschossen. Die Menschen in Ostpreußen, Pommern und Schlesien sind zur Flucht getrieben worden. Die NSDAP hat alle Deutschen, die teils seit Jahrhunderten dort lebten, aufgefordert zu flüchten, bevor die Russen da sind. Der Gauleiter von Ostpreußen beispielsweise hat die ostpreußische Bevölkerung zu lange zurückgehalten. Sie sind unter ganz furchtbaren Bedingungen geflohen.

Bei uns im Städtchen wurde bekannt gegeben, dass bis zum nächsten Tag alles zu räumen ist. Was ich tragen konnte, habe ich in meinen Schulranzen gesteckt, u.a. meine Bibel. Einen Teil der Habe, die wir mitnahmen, blieb schon auf der 2,5 km langen Strecke zum Bahnhof zurück, weil es kräftemäßig nicht zu bewältigen war. Wir sind mit der Kleinbahn, also Schmalspurbahn in offenen Güterwagen in die Nachbarstadt Trachenberg gefahren, haben die Nacht lang bei 20° minus gewartet und sind früh um Sieben in einen Zug aus Posen eingestiegen. So kamen wir bis Liegnitz, nach drei Tagen weiter bis Zittau. Das war alles gut organisiert. Natürlich hatten alle offiziellen Züge Verspätung, zum Glück, sonst würde ich heute nicht hier sitzen. Unser Flüchtlingszug wurde während des Bombenangriffes auf Dresden gestoppt.

Nach drei Tagen und vier Nächten erreichten wir Grimma, kamen nach Wurzen. In der Pestalozzischule schliefen wir 10 Tage auf Stroh. Auf dem großen Schulhof wurden wir verteilt, Einheimische konnten sich aussuchen, wen sie sympathisch fanden. Die Situation war sehr angespannt. Wir sind freundlich aufgenommen worden, bekamen ein Zimmer zu dritt, durften die Küche benutzen. Wir hatten keinen Garten mehr, bekamen nur das, was es auf Marken oder den so genannten Haushaltspass gab. Meine Schwester brachte uns mit ihrem kleinen Neulehrer-Gehalt durch und ermöglichte mir, auf die Oberschule zu gehen. Bei bitterer Kälte habe ich im Dorfsaal Klavier geübt. Wenn man mit 13 Jahren erleben muss, dass Säuglinge oder die Großmutter aus dem Zug raus in den Schnee gelegt werden, weil sie tot sind und es muss weitergehen, weiß man, was Krieg ist, wie das Leben sein kann.

Anfangs hatten wir noch Hoffnung unsere Heimat nicht zu verlieren. Mein Großvater war auf dem Land in Posen Lehrer, 1919 schon pensioniert. Den Leuten, die in der früheren deutschen Provinz Posen Dienst taten, wurde angeboten dazubleiben und die polnische Staatsbürgerschaft anzunehmen, sonst mussten sie das neue Polen verlassen. Er zog mit seiner Frau und allem Mobiliar nach Schlesien. Es wurde ihm vom Staat vergütet. Das waren Umsiedler! Sie konnten alles mitnehmen, was sie hatten. Bei uns in Schlesien war die Landwirtschaft bis auf die großen Güter arm, weil die Bodenqualität schlecht war. Manch armer Bauer, der mit seinem Gespann für die großen Güter arbeitete, ist hier durch die Bodenreform als Neubauer besser weggekommen als zu Hause. Mitte der 90er Jahre, nach der Wende haben wir 4.000 DM erhalten für das, was alles zurückgeblieben ist. Wer große Güter besaß, wurde anders entschädigt. Wir waren hier in der FDJ, weil da kulturell viel passiert ist. Es gab einen Chor, es wurde Theater gespielt, Sport getrieben. Die militärische und politische Ausrichtung der FDJ auch an den Erweiterten Oberschulen war in den 40er Jahren noch nicht so stark. Wir wollten einfach aufbauen. Ich war sehr aktiv in der Gemeinde als Ratsmitglied, Gemeindevertreter und habe kulturell in diesem Ort sehr viel bewegt, weil das einfach mein Bestreben war, auch in meiner beruflichen Entwicklung. Ich habe an der Leipziger Universität und der Hochschule für Musik Schulmusik studiert, wurde ausgebildet in Deutsch und Musik bis zur Abiturklasse. Aus politischen Gründen bin ich zur Musikschule gekommen, war nach der Wende auch Direktor.

Heimatverbundenheit ist bis heute da. Seit der Wende ist jedes Jahr ein Heimattreffen. Dass ich seit 20 Jahren in meine alte Heimat fahren kann, darüber bin ich froh. Mit den Leuten, die jetzt dort leben, kommen wir sehr gut aus, haben gute Beziehungen aufgebaut, die zum großen Teil freundschaftlich sind. Das ist das Besondere: Die normalen menschlichen Kontakte zu der heutigen Bevölkerung unserer Heimat, die ja auch vertrieben wurden, von Ostpolen her.